Präsenz

Die Deutsche Freiheit

Hans Jörg Schmidt:
„Die deutsche Freiheit“. Geschichte eines kollektiven semantischen Sonderbewusstseins,
Frankfurt am Main

506 Seiten, Hardcover
Buchausgabe: 45,– Euro
ISBN 978-3-941743-05-2
E-Book (PDF): 18,– Euro

Frankfurt am Main 2010
Verlag Humanities Online

  

Die zentrale, gegenwartsbezogene Fragestellung dieser Studie lautet: »Warum tun sich die Deutschen mit dem Wert der Freiheit so schwer und neigen in Zweifelsfällen eher zu den konkurrierenden Werten der Gleichheit, Gerechtigkeit oder Sicherheit?«

Der Autor bietet einen mit umfangreichem Quellenmaterial fundierten, historisch-mentalitätsgeschichtlichen Erklärungsansatz. In historischer Perspektivierung fragt er, warum Freiheit im deutschen Kulturzusammenhang eher als kollektiver, vom Staat zu gewährleistender Wert betrachtet wird, anstatt als Chance des Individuums zu freier Betätigung und individueller Entfaltung. Zwei Jahrzehnte nach dem Sieg der Freiheit in der friedlichen Revolution, die aufgrund des Freiheitsstrebens der Menschen in Ostdeutschland die Einheit ermöglichte, scheint der »Zauber der Freiheit« (Max Weber) stark verblasst bzw. die Rolle der Freiheit für die Schaffung von Wohlfahrt und Wohlstand im Erfolgsmodell Bundesrepublik Deutschland nahezu in Vergessenheit geraten zu sein. Die eher distanzierte Haltung zur individuellen Freiheit hat in Deutschland jedoch tiefe historische Wurzeln, die sich anhand der Entwicklung einer spezifisch deutschen Freiheitstradition nachvollziehen lassen. Mittels des strukturierenden Rahmens von Gemeinschaft und Individuum sowie der von Isaiah Berlin vorgenommenen Unterscheidung eines positiven und eines negativen Freiheitsbegriffs wird beginnend mit dem Zeitalter der Französischen Revolution die Genese einer auf das Kollektiv und den Staat orientierten Freiheitstradition rekonstruiert und in ihrer Gestalt als kollektives semantisches Sonderbewusstsein identifiziert.


Aus der Einleitung

Dass nicht die Freiheit in Deutschland allgemein, sondern die spezifische Begrifflichkeit einer »deutschen Freiheit« im Mittelpunkt steht, liegt einerseits also an der historisch-semantischen Ausrichtung, hält andererseits aber auch die Option offen, dadurch der Frage nachzugehen, ob sich hinter der von der Vorstellung einer »deutschen Freiheit« formal behaupteten These eines deutschen Sonderbewusstseins oder Sonderwegs in Freiheitsfragen auch inhaltliche Begründungen verstecken, die eine Anbindung des qua Gewohnheit und Tradition verinnerlichten Gedankenmodells an »realhistorische« Gegebenheiten im kontrastiven Vergleich national konstituierter Geschichten erlauben. Daraus ergibt sich zugleich die Frage, ob das qualifizierende Adjektiv »deutsch« eine nationalcharakteristische Sprach-, Kultur-, Abstammungs-, Wesens- oder Kognitionsgemeinschaft meint und ob dies innerhalb des herangezogenen Diskurskorpus in synchroner und diachroner Hinsicht gewichtet und selbstreflexiv thematisiert wird oder nicht.

Durch den Nachweis des Bestehens eines kollektiven Sprachgebrauchs innerhalb der Sprachgemeinschaft, kann, so der Untersuchungsansatz in nuce, der Nachweis des Eingangs in die Mentalität dieser Gemeinschaft geführt werden. Konturierte das kollektive Bewusstsein einer deutschen Freiheit – wäre in logischer Umkehr einer wohlbekannten Marxschen Argumentationsfigur zu fragen – den Umgang der Deutschen mit der Tatsache der Freiheit? Wurde dadurch, wenn nicht ein allgemeinhistorischer Sonderweg, so doch ein nationalhabitueller Eigenweg in Freiheitssachen beschritten? Wenn ja, wie ist seine historische und systematische Gestalt? Welche wechselseitigen Interferenzen dieses kollektive semantische Sonderbewusstsein einer »deutschen Freiheit« mit dem historischen »Sein« eingegangen ist, rekonstruieren die nachfolgenden Kapitel.

Inhalt

Inhalt

Einleitung  11

1  Deutsches Reich (seit der Französischen Revolution)

1.1  Erste Indikationen des Deutungsmusters »die deutsche Freiheit« im Umfeld der Französischen Revolution – »ein widersinniges Geschöpf«  25
1.2  Frühliberalismus zur Etatisierung des Deutungs­musters – Humboldt, Hegel, vom Stein und die »Sage von der Deutschen Freiheit«  27
1.3  Nnalisierung des Deutungsmusters im antinapoleonischen Befreiungskampf bei Arndt, Fichte und Müller – »Frei auf deutschem Boden walten«  31
1.4  Der frühe Vormärz bis zum Ende der 30er-Jahre – »Ehre, Freiheit, Vaterland«  38
1.5  Der späte Vormärz bis zur Märzrevolution – Das »Morgenroth der Freiheit«  48
1.6  Die Märzrevolution und ihre Deutung – Der »Tag staatlicher Freiheit aber ist noch keineswegs angebrochen«  51
1.7  Die realpolitische Wende mit dem Paradigmenwechsel von der Freiheit zur Einheit – »als ob die Freiheit bei uns blos eine Jastrolle jejeben«  55
1.8  Der nachrevolutionäre Freiheitsbegriff und die Beschwörung der Assoziationskraft bei Schulze-Delitzsch, von Gierke, Lasalle und von Treitschke – »so geht leicht über einer neuen Einheit die längst besessene Freiheit unter«  58
1.9  Weitere Verschiebungen zum Primat der Einheit – »Die Freiheit ist der Einheit gegenübergestellt worden«  66


2  Kaiserreich

2.1  Das Heraufkommen des Illiberalismus und der Aufbau einer präzeptorialen Staatstradition – »Es kostet große Mühe, sich auch nur in dem Begriff der Freiheit zurechtzufinden«  71
2.2  Der Aufbau der sozialen und kollektivistischen Komponente des Deutungsmusters – »daß das deutsche Kaisertum und die preußische Königskrone ein Hort der Freiheit ist«  78
2.3  Die Volksgemeinschaft als Freiheitsgarant im Ersten Weltkrieg – »Diese deutsche Freiheit ist ein durchaus originales Erzeugnis«  82
2.4  Friedrich Naumann als idealtypischer Vertreter einer volksstaatlich gebundenen Freiheitskonzeption – »daß der Fortschritt der Freiheit im deutschen Volke kein eilender ist«  89
2.5  Die Reaktion der Intellektuellen auf den Kriegseintritt Amerikas – »aufrecht, trotzig, frei und entschlossen, die deutsche Freiheit bis zum letzten Hauche der Kraft zu verteidigen«  95
2.6  Das Deutungsmuster in der Endphase des Ersten Weltkrieges – Die »freiheitlichen Zustände deutscher Eigenart«  105


3  Weimarer Republik

3.1  Demokratischer Beginn und Konstitutionalisierung – »Freiheitssonne«  109
3.2  Antiliberalismus und integrativer Nationalismus als miteinander interferierende Schwerpunkte des Deutungsmusters – »unsere Entwicklung wird führen zu dem Dreiklang der Freiheit, Verantwortung und Gemeinschaft«  118
3.3  Die Idee einer nationalen Befreiung – »denn ohne Freiheit ist auch das Leben einer Nation nicht wert gelebt zu werden«  123
3.4  Offener Antiparlamentarismus und Freiheit als Gemeinschafts­aufgabe – »Denn nicht Freiheit ist es, was sie zu suchen aus sind, sondern Bindung«  128
3.5  Die Aufhebung des Individuums und die Herausbildung eines nationalsozialistischen Freiheitsbegriffs – »Kampf und Tod […] im Namen von Freiheit, Ehre und Volkstum«  138
3.6  Entfesselter Kollektivismus am Ende der Weimarer Republik – »Gemeinschaftssehnsucht, die auf die individualistischen Freiheits- und Entscheidungsrechte gern verzichten möchte«  148


4  »Drittes Reich«

4.1  Nationalsozialismus  155
4.1.1  Die umfassende Kollektivismuspropaganda des National­sozialismus – »die erlösende Lehre von der Nichtigkeit und Unbedeutendheit des einzelnen Menschen«  155
4.1.2  Der »Reichsparteitag der Freiheit« im Jahr 1935 und dessen ideologische Nachwirkungen – »die deutsche Freiheitsbarbarei im zwanzigsten Jahrhundert«  167
4.1.3  »Deutsche Freiheit« als legitimatorisches Deutungs­muster im Zweiten Weltkrieg – »Krieg zur Vernichtung der Freiheit in der ganzen Welt«  178
4.2  Widerstand  186
4.2.1  Widerstandshandeln als explizite Verteidigung der »deutschen Freiheit« – »Diesen Sumpf der Unfreiheit gilt es in ein Kulturland der Freiheit zu verwandeln«  186


5  Bundesrepublik Deutschland

5.1  Inaugurierungsversuche der negativen Freiheitstradition durch die Besatzungsmächte im Rahmen einer resignativen Ausgangslage – »Wir erleben die Freiheit nicht mehr«  207
5.2  Erklärungsansätze für die nationalsozialistische Vergangenheit aus dem Blickwinkel der Freiheitsproblematik – »die Neigung des Deutschen, dem Staat metaphysischen Rang einzuräumen und um des Staates oder der ›Gemeinschaft‹ willen sich selbst als Individuum aufzugeben«  215
5.3  Freiheitliche Aufbaubestrebungen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft – »Abwerfung aller Schlacken des Obrigkeitsstaates«  220
5.4  Berlin während der Blockade – »Symbol der Freiheitsliebe der Menschen«  223
5.5  Das Grundgesetz und die Konstitutionalisierung einer freiheitlich demokratischen Grundordnung – »Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit«  226
5.6  Die Konsolidierung des Parteiensystems und der Einsatz des Deutungsmusters in der antikommunistischen Argumen­-tation – »daß die Worte Demokratie und Freiheit nicht bloß Worte, sondern lebensgestaltende Werte sind«  232
5.7  Die Anfänge der wehrhaften Demokratie und die Ausrichtung des Deutungsmusters auf eine nationalstaatliche Perspektive – »die Bahn freizubekommen für eine Entwicklung der freien Menschen und freien Staatsbürger und der Freiheit der Nation«  242
5.8  Der 17. Juni 1953 als Auftakt einer freiheitsbezogenen Memorialkultur – »deutsche Menschen, deren Glaube an das Recht auf Freiheit, an ihr Recht auf ihre Freiheit mit dem Tode bezahlt wurde«  248
5.9  Freiheit als Systemkomparativum und dessen Vereinnahmung im nationalkonservativen Diskurs – Ob »der Mensch frei oder Sklave des Kollektivs sein soll«  255
5.10  Parteiprogrammatische Neubewertung des Freiheitsbegriffs und einsetzende Fortschrittskritik – »Surrogatformen der individuellen Freiheit«  265
5.11  Parteipolitisch organisierter Freiheitslobbyismus – »Rettet die Freiheit e.V.«  275
5.12  Reaktionen der Intellektuellen auf die Ritualisierung des Freiheitsdiskurses in der Bevölkerung – »Ekel an der Freiheit«  282
5.13  Karl Jaspers’ Versuch, das Junktim zwischen Einheit und Freiheit zu lösen – »Nur die Freiheit – darauf kommt es an«  290
5.14  Kritik an freiheitsdegenerierenden Wirkungen von Fortschritt, Technik und Massengesellschaft – »daß das Freiheits­-bewußtsein des modernen Menschen nachgelassen, ja einen Schock davongetragen hat«  296
5.15  Durch den Mauerbau ausgelöste systemantagonistische Profilierung des Deutungsmusters – »Eine Mauer zu errichten / unsre Freiheit zu vernichten, / das wollten und das wagten sie«  300
5.16  Freiheit als ordnungspolitischer Maßstab neokonservativer Erziehungspolitik – »Wir wissen, daß Freiheit nicht identisch ist mit Bindungslosigkeit«  304
5.17  Aufbauversuch eines freiheitsbasierten Geschichtsbildes im Rahmen der Sozialliberalen Koalition – »gesellschaftlich erfüllte Freiheiten und Rechte«  317
5.18  Konservative Demokratiekritik im Namen der Freiheit – »Mehr Demokratie – Weniger Freiheit?«  325
5.19  Kritik an der fortschreitenden Ritualisierung des Freiheits-gedenkens – »Das freie Deutschland ist müde geworden«  329
5.20  Die Grundwertediskussion im Vorfeld der Bundestagswahlen von 1976 – »Wahl-Krampf um ein Wort«  332
5.21  Die Bedrohung der freiheitlich demokratischen Grundordnung durch den Terrorismus – »furchtbare Grimasse der Freiheit«  349
5.22  Von der Planbarkeitseuphorie zur Konstatierung der Grenzen des Wachstums – »die Wahrung der Freiheit des einzelnen und die Planung der wirtschaftlichen Entwicklung«  358
5.23  Pluralisierung statt angestrebter geistig moralischer Wende – »Gebote der Freiheit«  364
5.24 Stärkung der Eigenverantwortlichkeit durch die christlich-liberale Koalition bei gleichzeitiger Verlagerung des Freiheits­diskurses auf die Außenpolitik – »mehr Freiheit und nicht mehr Staat«  370
5.25  Zunehmendes Abrücken von der nationalen Einheit – »Der Kern der deutschen Frage ist die Freiheit«  374
5.26  Die Renaissance des Deutungsmusters »deutsche Freiheit« zum 40-jährigen Gründungsjubiläum der Bundesrepublik – »neue deutsche Freiheit«  379
5.27  Der Abschied von der Wiedervereinigungsidee – »auf größere Freiheit der Deutschen im anderen Teil Deutschlands hinzuwirken«  386
5.28  Die unverhoffte Wiedervereinigung – »im Geist der Freiheit wieder zusammenfinden«  389

6  »Die deutsche Freiheit« – Systematische und historische Gestalt eines kollektiven semantischen Sonderbewusstseins

6.1  Systematisch (idealtypisch)  393
6.1.1  Antithetik  394
6.1.2  Symbiotik  395
6.1.3  Komplementarität  396
6.1.4  Asymmetrie  397
6.1.5  Legitimation  398
6.2  Historisch (realtypisch)  399
6.2.1  Deutsches Reich (seit der Französischen Revolution): Traditionsaufbau  399
6.2.2  Kaiserreich: Traditionsausbau  401
6.2.3  Weimarer Republik: Traditionsumbau  402
6.2.4  Drittes Reich: Selektive Extremisierung vs. Traditionsverteidigung  404
6.2.4.1  Nationalsozialismus: Selektive Extremisierung  404
6.2.4.2  Widerstand: Traditionsverteidigung  405
6.2.5  Bundesrepublik Deutschland: Traditionsrückbau  406
6.3  Schluss  410

Quellen- und Literaturverzeichnis  412
7.1  Primärliteratur  413
7.1.1  Zeitungen und Zeitschriften413
7.1.2  Quellenschriften  414
7.2  Sekundärliteratur  443

Namenregister  500

Rezensionen

Rezensionen

"Das Buch «Die deutsche Freiheit. Geschichte eines kollektiven semantischen Sonderbewusstseins» von Hans Jörg Schmidt zitiert unter anderem eine Grundlagenstudie des Instituts für Demoskopie
Allensbach, wonach ein grosser Teil der Bevölkerung Freiheit weniger als unveräusserliches Grundrecht des Einzelnen sieht, sondern als einen klar definierten, von einem fürsorglichen Staat gewährten Spielraum. Die Arbeit, mit der Schmidt an der Universität Groningen promoviert hat, beruft sich auf den Politik-Theoretiker Isaiah Berlin und unterscheidet einen positiven und einen negativen Freiheitsbegriff. Die Bevölkerung zieht demzufolge einen positiven, staatszentrierten Freiheitsbegriff einem grundrechtlich verbürgten, auf das Individuum zentrierten negativen Freiheitsbegriff vor."
Neue Zürcher Zeitung